Beim Ausbruch der Pandemie setzte Deutschland schnell auf Nationalstaatlichkeit: Anstatt europäische und internationale Solidarität vorzuleben, wurden Grenzen geschlossen und sich auf sich selbst konzentriert. Fatma Tuna kommentiert den deutschen Umgang mit der Pandemie aus internationalistischer Perspektive und beleuchtet die Leerstellen, aus denen wir in Zukunft lernen sollten.
Fast abgedroschen klingt der Satz: „Das Coronavirus hält die Welt in Atem“. Allerdings sind Epidemien auch in der heutigen Zeit nichts Neues – vor allem nicht im Globalen Süden. Je näher sie in unseren Raum rücken, desto mehr müssen wir uns auch in Europa interdisziplinär damit beschäftigen. Denn das Virus ist nicht nur ein medizinisches Problem, sondern bringt Implikationen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen mit, indem es bestehende Ungleichheiten noch verschärft. Das wird in den USA deutlich, wo überproportional viele Schwarze Menschen an der Viruskrankheit sterben, aber auch in Deutschland. Zur Bekämpfung des Virus braucht es nicht nur auf lokaler Ebene ein solidarisches Miteinander, sondern auch auf globaler.
Ein Blick in den Globalen Süden
Als das Coronavirus begann sich im Inneren Europas zu verbreiten, wurde besonders viel über die potentiell verheerenden Ausmaße gesprochen, die es in Afrika anrichten würde. Vor allem das fehlende medizinische Personal, die ‚Rückständigkeit‘ bezüglich Hygiene und mangelnde Kenntnisse über sozioökonomische Strukturen wurden als Argumentation für diese Behauptungen genutzt. Dass allerdings gerade auf diesem riesigen Kontinent ein ungenutztes Potential für die Eindämmung des Coronavirus lauert, ist vielen in Europa lebenden Menschen nicht klar. Viele Staaten sind bereits geübt im Umgang mit gefährlichen Epidemien. Sie reagierten sehr schnell – die Bevölkerung tat ihr Übriges. Das Konzept von Abstandhalten und die Einhaltung weiterer infektionshemmender Maßnahmen sind durch Krankheiten wie Ebola oder Tuberkulose bereits bekannt.
Dem europäischen Blick entgeht oft: Der afrikanische Kontinent ist nicht immer das hilflose Fleckchen Erde, in dem das Böse wütet. Und während dort vor allem auf das solidarische Miteinander gesetzt wird, haben die europäischen Länder sehr schnell unsolidarisches Handeln an den Tag gelegt. Es scheint beinahe so, als ob der Fingerzeig auf die Ferne die Fehler der eigenen Regierungen kaschieren sollte. Denn in den ersten Wochen nach Ausbruch der Pandemie zeigte sich besonders in Europa sehr deutlich, dass es eine starke Tendenz zum Individualismus und zur Nationalstaatlichkeit gibt, die der Eindämmung des Virus entgegensteht. In den finanziell stabilen nord- und mitteleuropäischen Ländern übte sich die Bevölkerung in Hamsterkäufen, während andere Länder viel mehr auf kollektive Erfahrungen setzten.
Hier geht der Sudan als Beispiel voran. Das Land, das erst kürzlich mit einem Bürgerkrieg konfrontiert war und aktuell wirtschaftlich stark gebeutelt ist, leidet immens unter den Folgen von Covid-19. Mit nur vier Beatmungsgeräten für das gesamte Land ist der Südsudan wahrscheinlich eines der am wenigsten auf eine Pandemie vorbereitete Land in Afrika. Trotz der drohenden Krise und des maroden Gesundheitssystems konnte das Land auf eine Struktur bauen, für die es blutig gekämpft hat: Die Nachbarschaftskomitees, die sich während der Revolution formierten. Sie achten auf die Umsetzung der gesetzlichen Maßnahmen und verteilen Medikamente und Nahrungsmittel an die Bevölkerung. Die Bedeutung des gemeinsamen Agierens musste dieses Land bereits in der Vergangenheit auf eine besonders traurige Weise erlernen.
Auch in anderen Ländern sind kollektive Maßnahmen wie das Tragen von Masken und Einschränkungen im sozialen Miteinander bedeutend. In den großen Industriestaaten scheint diese Botschaft allerdings noch nicht angekommen. Gerade in Deutschland zeigt sich dies im Aufkeimen diverser Gruppierungen, die mit „Anti-Corona-Demos“ nicht nur Angst in der Bevölkerung schüren, sondern auch rassistische Propaganda verbreiten. Den Organisator*innen geht es aber hier vornehmlich nicht darum, Grundrechte zu verteidigen, sie sehen vielmehr Gefahren für ihre Individualität. Hier wird deutlich: Das eigene Wohl ist in vielen Ländern des Westens bedeutsamer als das Gemeinwohl. Dabei fängt Solidarität vor der eigenen Haustür an.
Europäische Außengrenzen – gefährlicher als das Virus
Ein Faktor, der einem solchen Wissens- und Erfahrungsaustausch im Weg steht, ist das kolonialrassistische Bild des Globalen Südens, das auch heute noch im europäischen Raum vorhanden ist. Nicht nur ist man nicht gewillt, den vermeintlich Anderen als ein Subjekt anzuerkennen. Vielmehr war der europäische Rassismus schon immer stark an den Glauben an eine Territorialität und die dadurch entstehende Binarität geprägt: Innerhalb der europäischen Grenzen sind die Menschen, die geschützt werden müssen, im Außerhalb ist ‚der Andere‘ platziert. Dies hat sich besonders prägnant am Anfang der Pandemie gezeigt: Mit Blitzgeschwindigkeit wurden die Außengrenzen geschlossen.
Durch die Globalisierung ist das Reisen unabdingbar geworden und es ist letztlich auch ihr geschuldet, dass sich das Virus so schnell rund um den Globus verteilen konnte. Es ist nahezu selbstverständlich, dass das überregionale Reisen kontrollierter verlaufen muss, damit das Virus sich nicht fortwährend verbreitet. Am europäischen Beispiel zeigt sich allerdings, wie verheerend Grenzschließungen sein können, wenn sich nicht mehr um das gekümmert wird, was außerhalb passiert. Bereits zu Anfang haben sich die Meldungen aus dem Geflüchtetenlager in Moria verbreitet. Während die nördlichen europäischen Länder bemüht sind, ihre eigene Bevölkerung zu schützen, stellt sich die Frage: Wer schützt die tausenden Geflüchteten in den griechischen Lagern, die in unhygienischen, menschenunwürdigen Verhältnissen ihr Dasein fristen?
Einen bittereren Beigeschmack erhält das Ganze, wenn man bedenkt, dass besonders die griechische Regierung sehr darauf bedacht ist, den Tourismus wiederzubeleben. Man möchte an denjenigen ägäischen Stränden die Hotels eröffnen, an denen auch schon vor Corona zahlreiche Menschen tot angespült wurden. Das Bruttoinlandsprodukt soll unter der Krise nicht noch mehr leiden müssen. Einen etwas adäquateren Umgang zeigt allein Portugal: Dort wurden bereits zu Beginn der Pandemie allen registrierten Geflüchteten der gleiche Zugang zu medizinischen Behandlungen zugesprochen wie der einheimischen Bevölkerung. Gemessen an den ökonomischen Bedingungen des Landes ist dies ein Akt von Menschlichkeit. Dahingegen ist die Aufnahme einiger weniger Geflüchtete durch die Bundesregierung ein großes humanitäres Fiasko. Zumal Deutschland aufgrund von Waffenexporten und neokolonialen Ausbeutungssystemen Fluchtursachen mitverantwortet.
„German asparagus tastes like exploitation”
Die Absurdität des europäischen Selbstbildes und der Besinnung auf Nationalstaatlichkeit gipfelte in der Diskussion um deutschen Spargel. Zu Recht wiesen die Bauern anfangs auf die bevorstehenden Missstände bei der Ernte hin. In einer Bürgerinitiative wurde versucht, den Bauern aus der Misere zu helfen, indem nach einheimischen Erntehelfer*innen gesucht wurde. Schnell wurde klar: Die deutschen Arbeiter*innen lassen sich nicht so leicht ausbeuten, wie andere. Denn durch den Konkurrenzdruck und der Preisdrückerei der großen Nahrungsmittelkonzerne ist für Erntehelfer*innen meist nicht mal der Mindestlohn als Verdienst vorgesehen.
Das Vorgehen der einheimischen Bauern in Bezug auf ihre aus dem Ausland kommenden Erntehelfer*innen wird beim aktuellen Fall Spargel Ritter in Bornheim deutlich. Dort streikten vor kurzem Erntehelfer*innen für ihren Lohn, nachdem das Unternehmen Insolvenz beantragt hatte. “German asparagus tastes like exploitation” war einer der Sprüche auf den Transparenten des Streiks. Doch damit sind nicht nur die Dumping-Löhne gemeint, sondern auch die menschenunwürdige Unterbringung der Arbeiter*innen. Und diese war bereits vor Corona ein großes Problem, auch wenn das medial in den vergangenen Jahren kaum Erwähnung fand.
Durch das Virus werden soziale Ungleichheiten so deutlich wie unter einem Brennglas. Während der Pandemie ist es in jeglicher Hinsicht fahrlässig, Menschen ohne Rechtsschutz und Gesundheitsfürsorge für einen Hungerlohn auf deutschen Spargelfeldern arbeiten zu lassen. Bereits in der ersten Woche starb der erste Spargelernter am Coronavirus. In unzähligen Unterkünften werden Krankheitsfälle gemeldet, ausgelöst durch die Unmöglichkeit der Wahrung von Abständen, obwohl nach Bundesrecht Saisonarbeitskräfte nur in Einzelzimmern untergebracht werden dürfen, aber: wo kein Richter, da kein Henker.
Pandemische Solidarität!
Die Grenzschließungen haben auch innerhalb Europas gravierende Auswirkungen. Nicht nur Moria ist als Beispiel zu nennen, sondern auch Italien. Nachdem Frankreich und Deutschland zu Beginn besonders auf das Horten gesetzt haben und Italien durch die Grenzschließungen nicht mehr mit medizinischen Produkten versorgt werden konnte, starben dort tausende von Menschen. Im innereuropäischen Umgang mit dem Virus zeigt sich, dass das Projekt Europa seinem eigenen Selbstbild als Solidargemeinschaft nicht gerecht wird. Eine umfassende Bekämpfung des Virus kann durch den Rückzug in die Nationalstaatlichkeit nicht gewährleistet werden.
Nachdem das erste medizinische Personal aus Kuba nach Italien reiste, oder China als einstiges Epizentrum der Pandemie Masken und Schutzausrüstung verteilte, vermuteten nicht wenige dahinter einen Coup zur Aufpolierung des Images dieser Staaten. Dass allerdings in diesen Zeiten auch auf internationaler Ebene zu jeder Zeit Solidarität möglich sein muss, wurde anscheinend vergessen. Außerhalb Europas ist dieses Wissen vielleicht bewusster und innerhalb Europas stellt sich doch die Frage: Wo ist die europäische Einigkeit, wenn man sie braucht? Wenn Europa nur zu Lasten anderer existieren kann, dann haben wir ein verzerrtes Selbstbild, welches das Versprechen, auf dem es fußt, innerhalb der eigenen Grenzen nicht einhalten kann.
Dabei ist für die erfolgreiche Bekämpfung des Virus in jeglicher Hinsicht internationale Solidarität gefragt, egal ob sie vonseiten der Epidemiolog*innen, Mediziner*innen, Soziolog*innen, Regierungen oder der Zivilgesellschaft ausgeht. Das Coronavirus wird uns als Weltgemeinschaft die nächsten Monate, gar Jahre begleiten und in dieser Zeit müssen wir uns als Zivilgesellschaft um Aufklärung und Aufarbeitung bemühen und unseren Fokus dorthin lenken, wo sonst niemand hinschaut. Wir müssen bereit dazu sein, von den vermeintlich Schwächeren zu lernen und dort laut sein, wo die Schwächeren keine Stimme haben. Denn weder Rettungsfonds noch leere Solidaritätsversprechen können helfen, wenn wir die Spirale der Ausbeutung auf internationaler Ebene nicht stoppen. Auch wenn es aus meiner Sicht fatal ist, die Coronakrise als Chance zu begreifen – birgt sie doch angesichts der vielen Toten und der verheerenden Folgen in nahezu allen Lebensbereichen zu große Gefahren – können wir in der Krise als Gesellschaft wachsen, indem wir den Blick dorthin richten, wo schon viel zu lang weggeschaut wurde. Das zeigt sich im entfernten Moria, wie auch auf den deutschen Spargelfeldern vor der eigenen Haustür. Denn pandemische Zeiten erfordern pandemische Solidarität.